Ich bin mit dem systemtheoretisch-neurophilosophisch-konstruktivistischen Teil meiner Arbeit vom Grundgerüst her fertig und wende mich gerade anderen Fragestellungen zu (die aber hoffentlich anschlussfähig an vorige Beiträge bleiben). Zunächst ist da die Frage der Medien, bzw. was ein Medium genau sein könnte. Dann stellt sich die Frage, was etwa “Neue Medien” sind. Wie Elena Esposito im hier verlinkten Video treffend anmerkt, zeigt alleine die Bezeichnung, dass es offenbar noch nicht viel mehr über sie zu sagen gibt als eben dies: dass sie neu sind. Was also ist ein Medium? Die Medienwissenschaft spricht hier, das ist zunächst wissenschafts-typisch und grundsätzlich positiv, nicht mit einer Stimme. Bei der Anwendung in einer wissenschaftlichen Arbeit ist dies in gewisser Weise etwas ärgerlich, denn eigentlich möchte man ja einen zirkelfreien, klar umrissenen – also einen definierten – Begriff von etwas zur Anwendung bringen, und sich nicht – wie in meinem Fall – innerhalb der systematischen Musikwissenschaft erst mit Angelegenheiten der Medienwissenschaft intensiv beschäftigen zu müssen. Wobei Rolf Großmann zurecht auf folgendes hinweist:
Daß ‘Musik verstehen’ immer mehr auch “Understanding Media” bedeutet, ist angesichts der Omnipräsenz des medialen Musikangebots und seiner Nutzung leicht nachvollziehbar. (Großmann, Rolf: Konstruktiv(istisch)e Gedanken zur ‘Medienmusik’, online im Internet, Zugriff am 26.6.2009)
Weder Sind Musik- und Medienwissenschaften klar voneinander zu trennen, noch täte dem wissenschaftlichen Geschehen eine einzige Definition eines Mediums gut: Wir kämen sicherlich in die Versuchung, diese eine Leitdefinition dann für wirklich und wahrhaftig war zu halten…
Grundsätzlich gibt es drei oder vier für mich interessante Perspektiven auf “die” Medien, etwa Luhmanns Medienbegriff mit der Unterscheidung Medium und Form, oder McLuhans (und auch Flussers) technische Konzeptionen, die Medien als Erweiterungen der menschlichen Sinnesorgane sehen. Zuerst habe ich mich mit der Taxonomie von Mike Sandbothe beschäftigt, auf den ich bei Benjamin Jörissen gestoßen bin. Wie es sich für einen Medienphilosophen mit Schwerpunkt Internet gehört, hat er eine ausgezeichnete Webpräsenz mit einer großen Anzahl an einsehbaren Texten. Obwohl es für mich ja um den Computer und seine unsichtbaren Maschinen geht, die auch ohne das Internet auskommen, und damit eine Reihen von Texten von Sandbothe für mich unanwendbar wird, sind das spannende Texte. Die nächsten Zitate stammen aus dem ebenfalls online verfügbaren Text “Interaktivität – Hypertextualität – Transversalität” http://www.sandbothe.net/36.html. Zunächst gibt es für Sandbothe sinnliche Wahrnehmungsmedien, Medien im weiten Sinn:
Unter Medien im weiten Sinn verstehe ich die Anschauungsformen von Raum und Zeit. Sie fungieren als grundlegende Medien unseres Wahrnehmens und Erkennens, indem sie Gegenstände als identische Entitäten synthetisierbar machen. Diese Einsicht liegt der “kopernikanischen Wende” zugrunde, mit der Kant der modernen Philosophie das Fundament bereitet hat. Die nachkantische Philosophie hat von Nietzsche und Hegel über Heidegger, Dewey und den späten Wittgenstein bis Derrida, Goodman und Rorty vor Augen geführt, daß die Stärke dieses Fundaments in seiner Beweglichkeit, Offenheit und Veränderlichkeit liegt. Bei unseren raum-zeitlichen “Weisen der Welterzeugung” handelt es sich nicht um starre, uniforme und ahistorische Apparaturen. Die Medien menschlicher Wirklichkeitskonstruktion sind vielmehr geprägt durch bildliche, sprachliche und schriftliche Zeichensysteme, die historisch kontingent sind und kulturell divergieren.
Dann kommen die semiotischen Kommunikationsmedien, Medien im engen Sinn.
Bild, Sprache und Schrift sind gemeint, wenn ich von Medien im engen Sinn rede. Sie haben im zwanzigsten Jahrhundert im Zentrum vieler philosophischer Diskussionen gestanden. Immer ging es dabei darum, eines oder mehrere dieser Medien als verbindliche Grundstruktur menschlichen Wirklichkeitsverständnisses überhaupt oder zumindest als Fundament des für die westliche Kultur charakteristischen Weltbildes auszuweisen. Das Spektrum reicht vom “linguistic turn” der analytischen Philosophie über diverse Mißverständnisse, die Derridas frühes Konzept einer philosophischen “Grammatologie” im Umfeld postmodernen Denkens ausgelöst hat, bis zu zeitgenössischen Verkündigungen eines “pictorial turn”.
Erst dann kommen die technischen Verbreitungsmedien, die Medien im engsten Sinn
Gegenwärtig wird unübersehbar, daß weder die Medien im weiten noch die Medien im engen Sinn fixe, unveränderliche Strukturen darstellen, die einen festen Halt für die philosophische Theorie bieten. Unser Umgang mit ihnen hängt vielmehr auch von institutionellen und technologischen Entwicklungen ab, die sich im Bereich der Medien im engsten Sinn vollziehen. Das gilt bereits für den Einfluß, den die Printmedien, das Radio und vor allem das Fernsehen auf unser Verständnis von Raum und Zeit sowie auf unseren Gebrauch von Bildern, Lauten und Buchstaben erlangt haben. Unübersehbar werden die Verflechtungsverhältnisse, die zwischen den Medien im weiten, im engen und im engsten Sinn bestehen, durch die neue Bedeutung, die interaktiven Datennetzwerken wie dem Internet für unsere Wahrnehmung und unsere semiotische Praxis zukommt.
Die Gefahr, die in einem derart umfassenden Begriff eines Mediums liegt, sind klar. Jörissen schreibt dazu (wobei er hier nicht, wie es den Eindruck macht, Sandbothe meint!):
Raum, Zeit, Körper, Mimik, Gestik, Stimme, Sprache, Schrift, Literatur, Buch, Buchdruck, Ton, Musik, der Plattenspieler, Radio »das« Internet, Plakate, Flaggensignale, Geld, Liebe, Macht, Wahrheit, das Wetter – um nur einige Beispiele zu nennen. Als ein solches Feld ausufernder Familienähnlichkeiten ist der Terminus »Medium« praktisch unbrauchbar. (Jörissen, Benjamin (2007): Beobachtungen der Realität. Bielefeld: Transcript. S.197)
Wie Lambert Wiesing im Suhrkamp-Sammelband Was ist ein Medium treffend herausstellt, findet sich die Gefahr des “entgrenzten” Medienbegriffs jedoch in allen Medientheorien, so auch bei Luhmann oder McLuhan. Im gleichen Sammelband stellt S. J. Schmidt einen “Medienkompaktbegriff” auf, der sich offenbar schon durch seine Bezeichnung dem Entgrenzungsvorwurf entgegen stellt. Vielleicht ja mehr dazu im nächsten Eintrag.